Revolte auf Papier: Flugblätter als Stimme des Umbruchs an der Uni Oldenburg

  1. Einleitung

„Revolte auf Papier“ – dieser Ausdruck fasst ein Stück Universitätsgeschichte zusammen, das heute leicht übersehen wird. Zwischen Mensa und Hörsaal, zwischen Zigarettenrauch und hektischen Diskussionen flatterten Ende der 1980er Jahre kleine Blätter durch die Gänge der Universität Oldenburg. Es waren keine Werbezettel oder Terminankündigungen im klassischen Sinn, sondern politische Statements, Aufrufe und Polemiken: Flugblätter. Während draußen die Mauer fiel, Staaten zusammenbrachen und sich die deutsche Gesellschaft neu ordnete, wurden die Flugblätter zum Sprachrohr einer Studierendenschaft, die mitten im Umbruch stand. Wer heute die von 1974 bis 1998 reichende Flugblattsammlung Havekost (Signatur: UniA OL, 29201) des Universitätsarchivs durchsieht, entdeckt eine einzigartige Momentaufnahme: Auf Papier geronnene Emotionen, Ideen, Ängste und Hoffnungen.

UniA OL 29201
  1. Hintergrund: Was war los an der Uni Oldenburg 1989 bis 1991?

Die Jahre 1989 bis 1991 waren von historischen Zäsuren geprägt: die friedlichen Revolutionen in Osteuropa, der Fall der Berliner Mauer und die deutsche Wiedervereinigung. Diese Ereignisse machten auch vor den Hochschulen nicht Halt. In Oldenburg reagierten Studierende, Fachschaften und Hochschulgruppen unmittelbar. Die Universität wurde zum Diskussionsraum über die Zukunft Deutschlands und Europas, aber auch über die eigene Rolle als kritische Intellektuelle. Dabei trafen globale Fragen auf lokale Konflikte: Wie sollte mit den Schatten des Nationalsozialismus umgegangen werden? Welche Konsequenzen hatte die westdeutsche Dominanz im Vereinigungsprozess? Welche Chancen und Gefahren barg der gesellschaftliche Wandel für alternative Lebensentwürfe?

 

Die Oldenburger Flugblätter sind damit weit mehr als bloße Infozettel. Sie bezeugen, dass die Universität nicht nur Lehranstalt, sondern auch Ort politischer Auseinandersetzung und gelebter Gegenkultur war.

 

Zur Methodik:

Unser methodisches Vorgehen war darauf angelegt, die Flugblätter nicht nur zu sammeln und zu katalogisieren, sondern ihre kommunikativen, argumentativen und visuellen Strategien systematisch zu erschließen. Die methodische Grundentscheidung, ausschließlich qualitativ hermeneutisch zu arbeiten, ergab sich aus zwei Überlegungen:

 

  1. Flugblätter sind kurz, oft polemisch und kontextgebunden — ihr Sinn muss im Text-Bild-Kontext rekonstruiert werden;

 

  1. wir wollten hinter den Aussagen die zugrundeliegenden Deutungsmuster, Argumentationsstränge und rhetorischen Techniken freilegen, nicht lediglich Häufigkeiten messen. Wir verfolgten ein purposives Sampling: innerhalb der Gesamtbestände wählten wir gezielt Material aus, das thematisch relevant und inhaltlich vielfältig war (verschiedene Autor:innengruppen, unterschiedliche Formate und grafische Ausprägungen). Zur Sicherung der Vielfalt achteten wir auf Repräsentation von AStA, Fachschaften, linken und konservativen Hochschulgruppen sowie individuellen Initiativen. Alle relevanten Flugblätter wurden im Lesesaal des Universitätsarchivs eingesehen.

 

Kontextualisierung der Arbeit:

Die Forschung wurde im Rahmen einer Projektförderung durch das Team forschen@studiums durchgeführt. Durch einen gemeinsamen Freund, der bereits eine entsprechende Förderung erhalten hatte, wurden wir auf diese Möglichkeit aufmerksam. Im Rahmen der Themensuche stießen wir auf das Universitätsarchiv. Die dort gewonnenen Informationen stellten bedeutende Erkenntnisse für die Ausarbeitung unseres finalen Themas dar. Nachdem wir eine begleitende Dozentin gefunden hatten, konnten wir uns bewerben und wurden im Oktober 2024 an der Universität eingestellt. Der Bewilligungszeitraum der Förderung entsprach dem Zeitraum, in dem unsere Forschung stattfand. Er reichte von Oktober 2023 bis Juni 2024. Die Präsentation unserer Ergebnisse erfolgte im Rahmen einer Poster-Session an der Universität. Dies geschah im Rahmen der 10. Konferenz für studentische Forschung. Der Zugang zum Universitätsarchiv gestaltete sich reibungslos, und die Kommunikation mit den Verantwortlichen war positiv und gut strukturiert.

 

Arbeit mit Studium vereint:

Die Arbeit mit den Flugblättern war erstaunlich gut in unseren Universitäts-Alltag zu integrieren – wenn auch nicht immer ohne gewisse Verrenkungen. Vormittags saßen wir wie alle anderen brav in Seminaren zu Literaturtheorie oder Zeitgeschichte, nachmittags verschwanden wir ins Universitätsarchiv und tauchten in die grell bedruckten Blätter von 1989 ein. Der Übergang war manchmal fast komisch: Während im Seminar endlos über „Diskursanalyse nach Foucault“ diskutiert wurde, hielten wir wenige Stunden später tatsächlich Originalquellen in den Händen, die genau nach solchen Mustern schrien. Theorie und Praxis lagen plötzlich auf demselben Tisch. Praktisch war, dass vieles parallel zu unseren Lehrveranstaltungen lief.

 

  1. Flugblätter als politische Ausdrucksform

Das Flugblatt ist ein schon lange genutztes und etabliertes Medium der Revolte: schnell produziert, billig, direkt. In Oldenburg erlebte es in den Jahren um 1990 eine Renaissance. Es war das Medium der Wahl, wenn es darum ging, Meinungen zu verbreiten, Proteste zu organisieren oder Debatten anzustoßen.

 

Im Unterschied zu offiziellen Verlautbarungen des AStA oder der Universitätsleitung zeichneten sich Flugblätter durch Spontaneität und Subjektivität aus. Sie waren Momentaufnahmen, oft emotional, manchmal polemisch, immer aber getragen vom Wunsch nach Teilhabe und Widerspruch.

 

Ihre Funktion war dreifach:

  1. Informieren – über politische Entwicklungen, geplante Demonstrationen oder kulturelle Veranstaltungen.
  2. Mobilisieren – durch Aufrufe zu Streiks, Demos oder Versammlungen.
  3. Positionieren – im Spannungsfeld von Wiedervereinigung, Antifaschismus, Genderfragen und alternativen Lebensstilen.

 

Neben klassischen Texten fanden sich auch ästhetische Elemente: Collagen, satirische Zeichnungen, ironische Überschriften. So verbanden die Flugblätter Politik und Kunst zu einer Protestkultur, die weit über reine Information hinausging.

 

  1. Themen und Konflikte in den Flugblättern

Ein Blick in die Oldenburger Sammlung zeigt eine erstaunliche Bandbreite an Themen:

 

Antifaschismus: Viele Flugblätter warnten vor dem Wiedererstarken nationalistischer und faschistischer Tendenzen. In Zeiten, in denen die Wiedervereinigung von manchen mit einem neuen deutschen Nationalstolz verbunden wurde, wollten die Studierenden ein klares Gegensignal setzen.

 

Kritik an westdeutscher Dominanz: Der Einigungsprozess wurde häufig als „Übernahme“ der DDR durch die BRD empfunden. Oldenburger Studierende solidarisierten sich mit Bürgerbewegungen in Ostdeutschland und kritisierten die Marginalisierung ihrer Stimmen im Vereinigungsprozess.

 

Soziale und kulturelle Anliegen: Über die großen politischen Fragen hinaus beschäftigten sich die Flugblätter auch mit Themen wie Gender, Sexualität, alternativen Lebensformen und Diversität. Auffällig ist, dass diese Themen schon damals sehr präsent waren – lange bevor sie im öffentlichen Diskurs breitere Aufmerksamkeit fanden.

 

Kulturelle Protestformen: Neben politischen Parolen boten die Flugblätter Einladungen zu Lesungen, Filmabenden oder Infoveranstaltungen. Kultur wurde als Mittel des Widerstands verstanden, als Raum, in dem Politik und Kreativität zusammenfanden.

 

Universitäre Konflikte: Auch hochschulinterne Fragen spielten eine Rolle – von Studienbedingungen bis hin zu Machtverhältnissen innerhalb der Universität. Das Flugblatt diente hier als Ventil und Forum für Kritik.

 

Insgesamt spiegeln die Flugblätter eine Generation, die sich nicht auf die Rolle von Beobachtenden beschränken wollte, sondern aktiv eingriff – auf der Straße ebenso wie im Seminar.

 

  1. Die Sprache der Flugblätter

Wer die Flugblätter liest, begegnet einer Sprache, die klar, direkt und kämpferisch ist. Sie will nicht neutral informieren, sondern bewegen. Schlagworte, Ausrufezeichen, Polemik – all das gehörte zum Repertoire. Häufig war die Sprache emotional, manchmal auch provokativ.

 

Gleichzeitig zeigt sich eine bemerkenswerte Kreativität: Wortspiele, ironische Überschriften, satirische Übertreibungen. Die Flugblätter waren nicht nur politische Statements, sondern auch kleine Kunstwerke.

 

Besonders spannend ist der Bruch zwischen inhaltlicher Schwere und spielerischer Form: Aufrufe gegen faschistische Strömungen standen neben Comic-Zeichnungen, Kritik an gesellschaftlichen Strukturen wurde in humorvolle Metaphern verpackt. Diese Mischung verlieh den Texten Schlagkraft und machte sie anschlussfähig für eine breite Studierendenschaft.

 

Die Sprache der Flugblätter war damit ein Ausdrucksmittel eigener Art: weder akademisch verklausuliert noch journalistisch glatt, sondern roh, ehrlich, manchmal überzogen – aber immer mit einem Ziel: Aufmerksamkeit zu erzeugen und zum Handeln zu bewegen.

 

  1. Was bleibt? Rückblick und Einordnung

Heute, mehr als 30 Jahre später, sind die Oldenburger Flugblätter historische Dokumente. Sie geben Einblicke in die politische Kultur einer Gesellschaft im Umbruch, in die Stimmungen und Konflikte einer Generation.

 

Aus wissenschaftlicher Perspektive zeigen sie:

Flugblätter als Quellen: Sie sind subjektiv, emotional und nicht repräsentativ – gerade darin liegt aber ihr Wert. Sie dokumentieren nicht nur Argumente, sondern auch Gefühle und Denkweisen der damaligen Zeit.

 

Universität als Gegenkultur: Die Universität war nicht nur Ort des Lernens, sondern auch Bühne für Protest, für kreative und politische Selbstentfaltung.

 

Mobilisierungsstrategien: Die Flugblätter belegen, wie eng Politik und Kultur miteinander verknüpft waren. Von Demonstrationen bis zu Filmabenden reichte das Spektrum der Aktivitäten.

 

Offene Fragen: Welche Wirkung hatten die Flugblätter tatsächlich? Wer las sie, wer ließ sich mobilisieren? Diese Stimmen fehlen weitgehend.

 

Die Flugblattsammlung Havekost im Universitätsarchiv ist heute nicht nur ein Forschungsobjekt, sondern auch ein kulturelles Erbe. Sie erinnert daran, wie lebendig, kontrovers und kreativ studentisches Engagement sein konnte – und kann.

 

  1. Fazit

Die in den Jahren 1989 bis 1991 an der Universität Oldenburg entstandenen Flugblätter sind mehr als Papier. Sie sind Ausdruck einer Revolte, die die Umbrüche jener Zeit aufgriff, kommentierte und in eigene Formen goss. Sie zeigen, dass politische Beteiligung nicht nur in Parlamenten oder auf großen Bühnen stattfindet, sondern auch zwischen Kopierer und Pinnwand, zwischen Mensa und Hörsaal.

 

In einer Zeit, in der digitale Medien den Ton angeben, erinnern die Flugblätter daran, wie kraftvoll gedruckte Worte sein können – gerade, wenn sie mit Leidenschaft geschrieben und mit Überzeugung verteilt werden.

 

Die „Revolte auf Papier“ war eine Stimme des Umbruchs – laut, widersprüchlich, kreativ. Sie bleibt ein wichtiger Teil der Oldenburger Universitätsgeschichte und ein Beispiel dafür, wie Studierende in Zeiten des Wandels nicht schweigen, sondern handeln.

Autorenschaft: Konstantin Burs und Finn Pottharst